Dem System ausgeliefert: Zwei kluge Filme über den Kapitalismus

 

Was ist Kapitalismus, was eine Klasse, Anarchie, Revolution? Was sind Gewerkschaften? Sind das nicht die, denen die Betriebe gehören? Politik hat irgendwie mit dem Staat zu tun, Anarchie ist was Schlimmes, und Hauptsache, wir haben uns alle lieb. Was der Regisseur Jean-Gabriel Périot in »Nos défaites« auf seine Fragen nach politischen Grundbegriffen von französischen Gymnasiasten zu hören bekommt, ist haarsträubend.

Im Frühsommer des vorigen Jahres erarbeitete Périot mit einem Filmkurs Szenen aus Klassikern französischer Filme, u. a. von Jean-Luc Godard, Alain Tanner und Chris Marker, die im Nachgang der 68er-Bewegung den Widerstand und die Arbeitskämpfe jener Zeit thematisieren. Schlaksige Teenager spielen Arbeiterinnen und Arbeiter, die vor Werktoren und auf den Straßen einer als existentiell empfundenen Verzweiflung über die elenden Verhältnisse vehement Ausdruck verliehen. Im Anschluss werden sie vom Regisseur zu den von ihnen dargestellten politischen Vorgängen befragt.

Périot arbeitet in seinen Werken entweder ausschließlich mit Archivmaterial, das er neu ordnet (zuletzt in »Une jeunesse allemande«) oder mit filmisch-sozialen Experimenten. Letzteres ist es auch, wenn Jugendliche von heute die revolutionären Szenen von früher zweifach gebrochen reflektieren: in Distanz zu einer anderen Zeit und auch zu einer anderen sozialen Ausgangslage. In der zunächst sperrigen Versuchsanordnung kommentieren die Elemente einander auf beklemmende Weise. Und führen vor Augen, dass man einer Welt, die man sich nicht erklären kann (weil man nicht gelernt hat, was beispielsweise Kapitalismus eigentlich ist), auf fatale Weise ausgeliefert ist.

Denn die Begriffe fehlen tatsächlich: in bezug auf soziale Kämpfe der Vergangenheit und auch auf die Welt bezogen, in der die Mädchen und Jungen leben. Dass es um die nicht gut bestellt ist, spüren sie diffus, können aber so gut wie nichts benennen – und deshalb vielleicht auch nichts ändern. Périot ist schlau genug, Ende 2018, nachdem in Frankreich so viel passiert ist, an die Schule zurückzukehren. Und siehe da: Es wird gestreikt! Interessanterweise nicht im Zusammenhang mit den Gelbwesten (die im Film nicht vorkommen), sondern weil Mitschüler wegen des Anbringens eines Transparentes von der Polizei festgehalten wurden. Auf einmal gibt es so etwas wie Widerstandsgeist, auf einmal ist es echt. Offenbar ist also Erfahrung eine zentrale Kategorie, wenn es um soziale Proteste geht. Doch wohin führt Empörung, wenn jegliches Grundwissen über das Funktionieren von Gesellschaft fehlt?

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Der »­Panorama«-Katalogtext hingegen legt nahe, es ginge hier um »heutige Formen des Kapitalismus und Möglichkeiten zu dessen Überwindung«. So würden die unbedarften Gymnasiasten das wahrscheinlich auch sehen. Man kann es aber auch für mehr als bedenklich halten, wenn die absolute Perversion eines Systems allen Ernstes für dessen Überwindung gehalten wird. Angesichts dessen ist es folgerichtig, dass Périot, der 2004 einen Film noch »We are winning, don’t forget« nannte, nun von unserer Niederlage spricht. Er sagt auch, dass es nichtsdestotrotz unsere Kämpfe sind, die uns ausmachen.

 

Grit Lemke
Jungewelt
11.02.2019